Was haben eine Manege, eine römische Göttin, vier vergessene Riesen, 408 Stufen und viele blaue Socken gemeinsam? – Ihre Geschichten verbergen sich alle im Stuttgarter Süden. Und auch in direkter Nachbarschaft hält das kleine Gerberviertel einige gute Anekdoten parat.
Sagenhaft: der Pallas-Athene-Brunnen.
Göttin Athene hat Stuttgart von der Karlshöhe aus im Blick. Am Ende des Jean-Améry-Wegs thront ihre Statue im Zentrum einer Brunnenanlage. Die Göttin ist im Moment ihrer eindrucksvollen Geburt dargestellt – der Sage nach entstieg Athene in voller Rüstung aus dem Kopf ihres Vaters Zeus. Vom Göttervater selbst ist nur der Riesenschädel dargestellt, er dient der Statue als Piedestal. Das Becken wird von zwei Figuren flankiert: Linkerhand trägt Prometheus seine Fackel, rechterhand hält Pandora ihre berühmte Büchse in den Händen. Der Pallas-Athene-Brunnen gehörte früher zum Anwesen des Industriellen Gustav Siegle. Dessen Witwe Julie ließ den Brunnen 1911 vom Bildhauer Karl Donndorf errichten. Die Athene weist darauf hin, wie sich die Familie Siegle gern selbst sah. Sie gilt nämlich nicht nur als Schutzgöttin Athens, sondern als Göttin der Weisheit und Schirmherrin der Künste und Wissenschaften. Auch Gustav und Julie Siegle waren großzügige Mäzenen kultureller, sozialer und wissenschaftlicher Zwecke. Auf sie geht etwa das erste Krankenhaus in Stuttgart-Feuerbach zurück.
Zirkus, Bunker, Bahnhof: Multitalent Marienplatz.
Der Marienplatz ist nach dem Schlossplatz der zweitgrößte Platz im Stuttgarter Talkessel. In seiner 140-jährigen Geschichte veränderte er häufig sein Gesicht. So befand sich auf seinem westlichen Abschnitt ab den 1890er Jahren ein Zirkus, in dessen Rundbau bis zu 3.500 Zuschauer:innen passten. 1936 wurde die Endhaltestelle der Zahnradbahn auf den Marienplatz verlegt, wo ein Bahnhofsgebäude samt Zeitungskiosk entstand. Eine Betonrampe, über welche die sogenannte „Zacke“ einfuhr, dominierte den Platz. Der Schutzbunker, der während des Zweiten Weltkrieges im Untergrund des Marienplatzes angelegt wurde, dient heute als Probenraum für Musikgruppen. Sein Notausgang befindet sich vor dem Prellbock der Zahnradbahn – durch ein Bodengitter erkennbar. Zu jener Zeit hatten die Nationalsozialist:innen den Marienplatz in „Platz der SA“ umbenannt. In den Nachkriegsjahren fiel der Platz in einen Dornröschenschlaf. 2003 wurde er „entrümpelt“ und vollkommen umgestaltet.
Von blauen Strümpfen und großen Weinbergen.
Der Name „Heslach“ stammt von den Haselbüschen entlang des heute verdolten Nesenbachs. Der Legende nach wurde der württembergische Herzog Ulrich im Jahr 1519 auf seiner Flucht aus Stuttgart von den Heslacher:innen verraten. Als er zurückkehrte, wusste Ulrich die passende Strafe für die Bevölkerung: Fortan sollten die Heslacher:innen blaue Beinlinge tragen – und so werden sie bis heute als „Blaustrümpfler:innen“ bezeichnet. Heslach stand übrigens lange im Schatten von Stuttgart. Aus dem Bauern- und Weingärtnerdorf hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts durch den Bau zahlreicher Fabriken ein Arbeiterstadtteil mit billigen und schlechten Wohnquartieren entwickelt. Allerdings gab es da noch den Südhang des Hasenberges. Bis zur Jahrhundertwende bestand jene Kuppe aus drei großen Weinbergslagen: Afternhalde, Wanne und Gebelsberg leben heute in Straßennamen fort. Das Selbstbewusstsein sollten dem Stadtteil, der vorübergehend auch Karlsvorstadt genannt wurde, schließlich prächtige Gebäude wie das Marienhospital oder die Matthäuskirche alias „Heslacher Dom“ geben.
Längste weit und breit: die Willy-Reichert-Staffel.
Nur einmal wie ein:e Stuttgarter:in fühlen? Da gibt’s nur ein Stichwort. Und das heißt „Stäffele“. So nennen die Einheimischen die vielen Treppen, dank derer sie täglich die zahlreichen Höhenmeter ihres Kessels überwinden. Das härteste Waden-Workout erwartet dich an der Karlshöhe. Mit ihren 408 Stufen gewinnt die Willy-Reichert-Staffel den Titel als längste der ca. 600 Stäffele. Sie wurde nach dem Stuttgarter Schauspieler und Humoristen Rudolf Wilhelm Reichert benannt, der besonders zusammen mit Oscar Heiler als Schwaben-Duo „Häberle und Pfleiderer“ Berühmtheit erlangte. Beim Staffelaufstieg kommst du an einem kleinen Weinberg des städtischen Weinguts vorbei.
Die vergessenen Riesen vom Südheimer Platz.
Wie schon die Kolonie Ostheim sollte auch Südheim Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer großen Arbeitersiedlung werden. Doch das Areal, das sich an den Stadtteil Heslach schloss, wurde nur zu einem Fünftel bebaut. Bestand Ostheim aus ein- bis zweistöckigen Häusern, so sollten in Südheim höhere Gebäude mit mehr Wohnraum entstehen. Backsteinbauten und Fachwerk prägen den Baustil der kleinen Kolonie, die für eine bessere Lebensqualität der arbeitenden Klassen gegründet wurde und sich zwischen der Seilbahn und dem Südheimer Platz erstreckt. Jener Platz wurde später für Jahrzehnte von einer Autobrücke überspannt. Als die Bundesstraße schließlich umgeleitet wurde, verlor auch die Brücke ihre Funktion und wurde 2004 schließlich abgerissen. Lediglich vier Betonpfeiler blieben erhalten. Auf dem neu gestalteten Platz dienen diese vergessenen Riesen nun neben dem Wasserspiel als übergroße Straßenlaternen.