Hinter der Fassade

Villen, die wie Kirchen aussehen. Kirchen, die nach Töchtern benannt werden. Und das ist erst der Anfang! Hinter den Hausfassaden schlummern im Stuttgarter Westen Weltfirmen, Schokoladenfabriken und sogar ein ehemaliges Gefängnis. So viele Geheimnisse… raus damit!

Privatstraße mit Welterfolg.

Knospstraße, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Nur ein paar Schritte vom Feuersee entfernt, birgt die Knospstraße eine weltweite Erfolgsgeschichte. Ursprünglich als Privatstraße durch die Familie Knosp angelegt, siedelten sich hier ab Mitte des 19. Jahrhunderts zwei große Chemiefirmen an. Die Knosp’sche Chemiefabrik und Gustav Siegles Lackfabrik lagen sich direkt gegenüber. Aufgrund des großen Konkurrenzdrucks fusionierten beide Unternehmen 1873 mit der Badischen Anilin- und Sodafabrik – kurz: BASF. Da diese dritte Firma ihren Sitz direkt am Rhein hatte, entschied man sich für einen gemeinsamen Hauptsitz in Ludwigshafen und gewann damit einen klaren Standortvorteil. Und heute? Trägt die Firma weiterhin den Namen BASF und gilt als der größte Chemiekonzern der Welt. An der Rotebühlstraße 70, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Knospstraße, steht noch heute die hübsche Villa aus rotem Backstein, in der die Knosp-Familie wohnte.

Elisabeth und ihre Nachbarn.

Kirche St. Elisabeth, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Der Bismarckplatz wurde in den 1880er Jahren angelegt. Die große, neoromanische Backsteinkirche, die ihn prägt, trägt den Namen St. Elisabeth. Ein wohlhabender Kaufmann stiftete ihren Bau 1901 nach dem Tod seiner erst elfjährigen Tochter Elisabeth – weshalb das Gotteshaus auch der heiligen Elisabeth geweiht werden sollte. Heute zählt die Kirche mit über 9.000 Gläubigen als die größte katholische Gemeinde der Stadt. Der Bismarckplatz steht seit einigen Jahren als Quartierzentrum im Mittelpunkt städtebaulicher Fragen. Rundherum gibt es viel zu sehen: Wer hier durch das Gründerzeitviertel schlendert, kann überall Spuren des Jugendstils finden. Über den Türen sitzen Engel und Wassergeister, unter den Fensterrahmen verstecken sich Nixen und Drachen. Besonders wild geht es an den Fassaden in der Bismarckstraße, Elisabethenstraße, Gutbrodstraße und Paulusstraße zu. Am Eckhaus zur Rötestraße wird der Balkon gar von zwei Elefantenköpfen getragen.

Wohnen im Knast.

Ehemaliges Gefängnis, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Heute liegt der Feuersee im Wohngebiet. Mitte des 19. Jahrhunderts befand er sich allerdings weitab vom Stadtkern. Um ihn herum: viel freier Bauplatz. So beschloss man, unweit des Sees, an der heutigen Senefelderstraße 45, ein Gefängnis zu errichten. 1850 nahm das Zuchthaus seinen Betrieb auf. 120 lebenslänglich Inhaftierte mussten hier tagsüber stillschweigend Arbeiten verrichten. Sogar drei Hinrichtungen durch die Guillotine fanden im Gefängnis statt. Die rasche Ausdehnung der Innenstadt in Richtung Westen und auch die starke Überbelegung führte zum Umzug der Sträflinge in einen Neubau nach Ludwigsburg. Vom ehemaligen Gefängnis stehen heute noch der Zentralbau und der Verwaltungstrakt. Nach verschiedenen Zwischennutzungen wurde das Gebäude in den 1980er Jahren schließlich zum Wohnhaus umgebaut.

Zwiebelturmmagie und Russische Kirche.

Russische Kirche mit Zwiebelturm, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Sandsteinsockel, roter Backstein und grüner Zwiebelturm: In einem Umfeld aus Wohnungen und Büros sticht die Russische Kirche von Weitem hervor. Wie kam das Bauwerk in den Westen? Geschichtsfans wissen: Die Beziehungen zwischen dem Königreich Württemberg und dem russischen Zarenhaus waren lange Zeit sehr intensiv. Die Zarentöchter Katharina und Olga wurden beide zu württembergischen Königinnen gekrönt. Katharina richtete im Neuen Schloss eine russisch-orthodoxe Kapelle für eine Gemeinde ein, die sie 1816 gründete. Später fanden die Gottesdienste in der Grabkapelle auf dem Württemberg statt, wo die früh verstorbene Königin beigesetzt wurde. Herzogin Wera, die Adoptivtochter von Königin Olga, empfand den Aufstieg zur Kapelle als sehr beschwerlich und gab den Anstoß, eine russisch-orthodoxe Kirche in der Stadt erbauen zu lassen. So entstand 1895 St. Nikolai. Die Finanzierung übernahm die russische Regierung und die Zaren Alexander III. und Nikolaus II. Wegen der beengten Verhältnisse bekam das Gebäude statt der üblichen fünf nur eine Zwiebelkuppel. Sein Stil ist an den Moskauer Kirchenbauten um das 17. Jahrhundert orientiert, der Entwurf stammt allerdings von den Stuttgarter Architekten Ludwig Eisenlohr und Carl Weigle. St. Nikolai ist die älteste, ununterbrochen bestehende russisch-orthodoxe Kirchengemeinde in Deutschland.

Stuttgarts Schokoladenseite: Waldbaur.

WWW – Waldbaur, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
„WWW“. Das Kürzel prangt in einem Steinwappen an der Fassade der Rotebühlstraße 83. WWW wie World Wide Web? WWW wie „Wir wollen Waldbaur“! Das „Waldbaur“ steht auch direkt unter dem Wappen. Dabei handelt es sich um eine der bedeutendsten Schokoladenfabriken der damaligen Schokoladenstadt Stuttgart. 1848 startete das Unternehmen am Calwer Tor 7, der späteren Rotebühlstraße 83. Hier wurde Schokolade gegossen, verpackt und verschickt. In der Fabrik befanden sich das Zuckermagazin, das Kesselhaus und die Fuhrwerke für die Auslieferung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts florierte das Unternehmen. In ganz Europa und sogar in Amerika aß man Waldbaur-Schokolade und die berühmten „Katzenzungen“. Als die Branche in den 1970er Jahren in wirtschaftliche Bedrängnis kam, musste auch Waldbaur seine Produktion einstellen. Doch den älteren Stuttgartern und Stuttgarterinnen läuft bei einem Blick auf den WWW-Schriftzug vielleicht noch heute das Wasser im Munde zusammen.

Villenmuseum? Prominentenhügel? Hasenbergsteige!

Villa Kaiser Hasenbergsteige, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Schwitzen erlaubt: Die steile Hasenbergsteige war einst die direkteste Verbindung von der Residenzstadt in Richtung Calw. Die Gründerzeitbauten, der Gänsepeterbrunnen, die Überreste des Hasenbergturms und die Aussichtsplatte sind nur eine Auswahl sehenswerter Besonderheiten, die zum Spaziergang entlang der alten Straße verführen. Wo heute Initialen die Briefkästen schmücken, wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Villen erbaut. Mit der Ansiedlung der Stadtaristokratie samt Regierungsräten, Fabrikanten und Privatiers erhielt der Hasenberg schnell seinen Spitznamen: Der „Prominentenhügel“ überzeugt bis heute als inoffizielles Villenmuseum. An der Nummer 70 erinnert etwa das „Haus Hohenberg“ mit Turm und markantem Eingangstor an einen Kirchenbau. Doch die Villa war nie ein Gotteshaus, sondern diente unter anderem als illegaler Treffpunkt von Oppositionellen während des NS-Regimes. An der Nummer 60 steht das „Alexanderhäusle“, um das sich viele Geschichten ranken. Das romantische Gartenhaus aus dem 18. Jahrhundert ist eines der ältesten Bauwerke im Stuttgarter Westen. Die Hasenbergsteige 20 beherbergt die Villa Kaiser aus der Gründerzeit. Hier thront die Büste von Gustav Schwab, der für seine „Sagen des klassischen Altertums“ berühmt wurde.

Ein Haus, zwei Medaillen.

Bauwich im Stuttgarter Westen, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Wer durch den Westen spaziert, versteht schnell: Die fünf- bis sechsgeschossigen Gründerzeithäuser aus Sand- und Ziegelstein sind das Markenzeichen des Bezirks. Durch den Ortsbaustatut von 1874 erhielten die Viertel ihre eigene, so typische Ausprägung mit quadratischem Straßenraster und Blockrandbebauung. Damit bezeichnet man die Anordnung von mehreren Wohngebäuden um einen gemeinsam genutzten Innenhof. Einmalig in Deutschland ist auch der „Bauwich“, eine obligatorische Abstandsfläche von 2,9 Metern zwischen den Häusern. Im boomenden Wohnungs- und Industriebau des 19. Jahrhunderts sollte in der Residenzstadt Stuttgart auch die ansprechende Fassadengestaltung nicht zu kurz kommen. So wünschte der König, dass jedes Gebäude eine verzierte Fassade aufwies – die Rückseite hingegen wurde schlicht gehalten. Tipp: Schlüpf im Westen ruhig einmal in einen der zahlreichen Hinterhöfe. Der Vorne-Hinten-Vergleich ist verblüffend. Bis heute bestehen die Gebäuderückseiten aus schmucklosen Backsteinmauern, während ihre Vorderseiten mit tierischen und ornamentalen Details ihre Show abziehen!