Hinter der Fassade

Sie haben es faustdick hinter den Fassaden: Im Gustav-Siegle-Haus brodelt die Kultur. Unterm Dach des Schriftstellerhauses entstehen Bestseller von morgen. In der Leonhardskirche wird – nicht erst seit gestern – Essen und Menschlichkeit verteilt. Und was haben die Townhouses hier verloren? Im Bohnen- und Leonhardsviertel steckt mehr dahinter!

Schriftstellerhaus, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Versteckte Literaturoase: das Schriftstellerhaus.

Hinter dem Hochhaus am Charlottenplatz versteckt sich in der kurzen Kanalstraße eine historische Häuserzeile. Das vierstöckige Backsteinhaus mit der Nummer 4 misst nur 4,58 Meter in der Breite. Was steckt im eingequetschten Gebäude aus dem 17. Jahrhundert? Sehr viel Bücherliebe! In den 1980er Jahren sollte das Häuschen bereits abgerissen werden, als es zur unverhofften Wendung kam: 1983 wurde es zum ersten Schriftstellerhaus in Deutschland gekürt. Der gleichnamige Verein hat sich die Förderung der Literatur zur Aufgabe gemacht. Seither hat sich das Gebäude zum Treffpunkt für Autor:innen aus der Region gemausert. In den gemütlichen Räumen im Erdgeschoss finden Lesungen, Tagungen und Stammtische statt. Unterm Dach kommen schreibende Stipendiat:innen unter.

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Town-Houses, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
80er-Jahre-Vorbild: die "Town-Houses".

Was Anfang der 1980er in der Charlotten- und Rosenstraße neu geschaffen wurde, ist heute Geschichte: denkmalwerte Geschichte. Seit 2018 stehen die „Town Houses“ im Bohnenviertel auf der Liste der Stuttgarter Denkmäler. Statt einer Flächensanierung erstritt eine Bürgerinitiative in den 1970er Jahren den Bau einer Wohnanlage im Stil englischer Stadthäuser. Gemäß der Devise „Neues Wohnen in alten Städten“ entstanden von 1980 bis 1982 fünfzig geförderte Wohnungen samt Hinterhöfen, Gärten, Spielplätzen und einer Tiefgarage. Die Anlage an der Charlottenstraße besitzt einen geschlossenen Charakter als achtgeschossiger Lärmschutzbau. Die Wohnungen sind hier zum Innenhof ausgerichtet. An der Rosenstraße stehen dafür drei hoch aufragende „Town Houses“ mit markanten Satteldächern. So nahm das Projekt neue Ideen des sozialen Wohnungsbaus auf und erschuf das „gestapelte Ein-Familienhaus für die Stadt“ mit gemeinschaftlichen und privaten Freibereichen.

Gustav-Siegle-Haus, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Kultur für das Volk: das Gustav-Siegle-Haus.

Nach dem Tod des Industriellen Gustav Siegle gründete seine Witwe Julie eine nach ihm benannte Stiftung. Der Architekt Theodor Fischer erbaute in ihrem Auftrag zwischen 1907 und 1912 das Gustav-Siegle-Haus. Das Gebäude im romanisch-lyrischen Stil sollte dem Volk „den Zugang zu gediegener Bildung des Geistes und des Herzens zu erleichtern“. Bei seinem Entwurf bezog der Architekt klassizistische und regionale Formenelemente und moderne Baumaterialien ein. Die Hauptfassade zeigt eine sechssäulige Vorhalle mit zwei Freitreppen, die sich unter einem angedeuteten Turm treffen und in den früher reich verzierten Vortragssaal führen. Schnell fanden erste Veranstaltungen statt: Persönlichkeiten wie der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner oder Gustav Stresemann, der damalige Außenminister der Weimarer Republik, referierten hier. Nach dem Krieg wurde das stark zerstörte Haus an die Stadt verkauft und von Martin Elsässer, dem Erbauer der Markthalle, bis auf die Eingangsfront vereinfacht wieder aufgebaut. Heute sind hier die Stuttgarter Philharmoniker, die „Galerie Kunstbezirk“ und der Jazzclub „Bix“ beheimatet.

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Leonhardskirche, © Stuttgart-Marketing GmbH, Sarah Schmid
Sozial und mittendrin: die Leonhardskirche.

Als die Leonhardskirche 1466 anstelle der Leonhardskapelle errichtet wurde, stand sie noch außerhalb der Stadtmauern. Wer das Gotteshaus heute besucht, findet das Bauwerk mittendrin. Umgeben von zwei Parkhäusern, dem Gustav-Siegle-Haus und in Reichweite des Stuttgarter Straßenstrichs, ist sie das Herz des Bohnen- und Leonhardsviertels. Außen ist die gotische Prägung der Kirche gut erhalten. Innen sind die Folgen des Zweiten Weltkrieges dauerhaft sichtbar geblieben. Im flachgedeckten Raum entdecken Kunstinteressierte trotzdem Details aus alten Zeiten, etwa das selbst gestaltete Grabmal des Humanisten Johannes Reuchlin. Der Namenspatron St. Leonhard betreute seinerzeit die Gefangenen und zur Hinrichtung Verurteilten. Auch der dem Pilger Jodokus gewidmete Schlussstein weist darauf hin, dass die Leonhardskirche bereits vor Jahrhunderten den oft armen Pilgern auf dem Jakobsweg Rast gewährte. Von diesem „Sozialprogramm“ aus dem Mittelalter spannt sich ein Bogen zur Gegenwart: Die Leonhardskirche ist die erste „Vesperkirche“, die 1995 in der Bundesrepublik gegründet wurde. Täglich finden bis zu tausend Menschen zwischen Januar und Palmsonntag hier Essen, medizinische und tierärztliche Versorgung, Gespräche, Beratung und Ruhe.